Über die Formfrage
Wasily Kandinsky – 1912 – Der Blaue Reiter
Zur bestimmten Zeit werden die Notwendigkeiten reif. Das heißt
der schaffende Geist (welchen man als den abstrakten Geist bezeichnen
kann) findet einen Zugang zur Seele, später zu den Seelen
und verursacht eine Sehnsucht, einen innerlichen Drang.
Wenn die zum Reifen einer präzisen Form notwendigen Bedingungen
erfüllt sind, so bekommt die Sehnsucht, der innere Drang,
die Kraft, im menschlichen Geist einen neuen Wert zu schaffen,
welcher bewußt oder unbewußt im Menschen zu leben
anfängt. Bewußt oder unbewußt, sucht der Mensch
von diesem Augenblick an dem in geistiger Form in ihm lebenden
neuen Wert eine materielle Form zu finden.
Das ist das Suchen des geistigen Wertes nach Materialisation.
Die Materie ist hier eine Vorratskammer, aus welcher der Geist
das ihm in diesem Falle Nötige wählt, wie es der Koch
tut.
Das ist das Positive, das Schaffende.
Das ist das Gute.
Der weiße befruchtende Strahl.
Dieser weiße Strahl führt zur Evolution, zur Erhöhung.
So ist hinter der Materie, in der Materie der schaffende Geist
verborgen. Das Verhüllen des Geistes in der Materie ist oft
so dicht, daß es im allgemeinen wenig Menschen gibt, die
den Geist hindurchsehen können. So sehen gerade heute viele
den Geist in der Religion, in der Kunst nicht. Es gibt ganze Epochen,
die den Geist ableugnen, da die Augen der Menschen im allgemeinen
zu solchen Zeiten den Geist nicht sehen können. So war es
im 19. Jahrhundert und so ist es im großen und ganzen noch
heute
.
Die Menschen werden verblendet.
Eine schwarze Hand legt sich auf ihre Augen. Die schwarze Hand
gehört dem Hassenden. Der Hassende versucht durch alle Mittel
die Evolution, die Erhöhung zu bremsen.
Das ist das Negative, das Zerstörende. Das ist das Böse.
Die schwarze todbringende Hand.
Die Evolution, die Bewegung nach vor- und aufwärts, ist
nur dann möglich, wenn die Bahn frei ist, das heißt
wenn keine Schranken im Wege stehen. Das ist die äußere
Bedingung.
Die Kraft, die auf der freien Bahn den menschlichen Geist nach
vor-und aufwärts bewegt, ist der abstrakte Geist. Er muß
natürlich herausklingen und gehört werden können.
Der Ruf muß möglich sein. Das ist die innere Bedingung.
Diese beiden Bedingungen zu vernichten, ist das Mittel der schwarzen
Hand gegen die Evolution.
Die Werkzeuge dazu sind: die Angst vor der freien Bahn, vor der
Freiheit (Banausentum) und die Taubheit gegen den Geist (stumpfer
Materialismus).
Deshalb wird jeder neue Wert von den Menschen feindlich betrachtet.
Man sucht ihn zu bekämpfen durch Spott und Verleumdung. Der
den Wert bringende Mensch wird als lächerlich und unehrlich
dargestellt. Es wird über den neuen Wert gelacht und geschimpft.
Das ist der Schreck des Lebens.
Die Freude des Lebens ist der unaufhaltsame, ständige Sieg
des neuen Wertes.
Dieser Sieg geht langsam vor sich. Der neue Wert erobert ganz
allmählich die Menschen. Und wenn er in vielen Augen unzweifelhaft
wird, so wird aus diesem Wert, der heute unumgänglich nötig
war, eine Mauer gebildet, die gegen Morgen gerichtet ist.
Das Verwandeln des neuen Wertes (der Frucht der Freiheit) in
eine versteinerte Form (Mauer gegen Freiheit) ist das Werk der
schwarzen Hand.
Die ganze Evolution, das heißt das innere Entwickeln und
die äußere Kultur, ist also ein Verschieben der Schranken.
Die Schranken werden ständig aus neuen Werten geschaffen,
die die alten Schranken umgestoßen haben.
So sieht man, daß im Grunde nicht der neue Wert das wichtigste
ist, sondern der Geist, welcher sich in diesem Werte offenbart
hat. Und weiter die für die Offenbarungen notwendige Freiheit.
So sieht man, daß das Absolute nicht in der Form (Materialismus)
zu suchen ist.
Die Form ist immer zeitlich, das heißt relativ, da sie
nichts mehr ist, als das heute notwendige Mittel, in welchem die
heutige Offenbarung sich kundgibt, klingt.
Der Klang ist also die Seele der Form, die nur durch den Klang
lebendig werden kann und von innen nach außen wirkt.
Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhaltes.
Deshalb sollte man sich aus der Form keine Gottheit machen. Und
man sollte nicht länger um die Form kämpfen, als sie
zum Ausdrucksmittel des inneren Klanges dienen kann. Deshalb sollte
man nicht in einer Form das Heil suchen.
Diese Behauptung muß richtig verstanden werden. Für
jeden Künstler (das heißt produktiven Künstler
und nicht «Nachempfinder») ist sein Ausdrucksmittel
(= Form) das beste, da es am besten das verkörpert, was er
zu verkünden verpflichtet ist. Daraus wird aber oft fälschlich
die Folge gezogen, daß dieses Ausdrucksmittel auch für
die ändern Künstler das beste ist oder sein sollte.
Da die Form nur ein Ausdruck des Inhaltes ist und der Inhalt bei
verschiedenen Künstlern verschieden ist, so ist es klar,
daß es zu derselben Zeit viel verschiedene Formen geben
kann, die gleich gut sind. Die Notwendigkeit schafft die Form.
[...]
So spiegelt sich in der Form der Geist des einzelnen Künstlers.
Die Form trägt den Stempel der Persönlichkeit.
Der ganze Essay
Über die Formfrage
Wasily Kandinsky – 1912 – Der Blaue Reiter
Zur bestimmten Zeit werden die Notwendigkeiten reif. Das heißt
der schaffende Geist (welchen man als den abstrakten Geist bezeichnen
kann) findet einen Zugang zur Seele, später zu den Seelen
und verursacht eine Sehnsucht, einen innerlichen Drang.
Wenn die zum Reifen einer präzisen Form notwendigen Bedingungen
erfüllt sind, so bekommt die Sehnsucht, der innere Drang,
die Kraft, im menschlichen Geist einen neuen Wert zu schaffen,
welcher bewußt oder unbewußt im Menschen zu leben
anfängt. Bewußt oder unbewußt, sucht der Mensch
von diesem Augenblick an dem in geistiger Form in ihm lebenden
neuen Wert eine materielle Form zu finden.
Das ist das Suchen des geistigen Wertes nach Materialisation.
Die Materie ist hier eine Vorratskammer, aus welcher der Geist
das ihm in diesem Falle Nötige wählt, wie es der Koch
tut.
Das ist das Positive, das Schaffende. Das ist das Gute. Der weiße
befruchtende Strahl.
Dieser weiße Strahl führt zur Evolution, zur Erhöhung.
So ist hinter der Materie, in der Materie der schaffende Geist
verborgen. Das Verhüllen des Geistes in der Materie ist oft
so dicht, daß es im allgemeinen wenig Menschen gibt, die
den Geist hindurchsehen können. So sehen gerade heute viele
den Geist in der Religion, in der Kunst nicht. Es gibt ganze Epochen,
die den Geist ableugnen, da die Augen der Menschen im allgemeinen
zu solchen Zeiten den Geist nicht sehen können. So war es
im 19. Jahrhundert und so ist es im großen und ganzen noch
heute
.
Die Menschen werden verblendet.
Eine schwarze Hand legt sich auf ihre Augen. Die schwarze Hand
gehört dem Hassenden. Der Hassende versucht durch alle Mittel
die Evolution, die Erhöhung zu bremsen.
Das ist das Negative, das Zerstörende. Das ist das Böse.
Die schwarze todbringende Hand.
Die Evolution, die Bewegung nach vor- und aufwärts, ist
nur dann möglich, wenn die Bahn frei ist, das heißt
wenn keine Schranken im Wege stehen. Das ist die äußere
Bedingung.
Die Kraft, die auf der freien Bahn den menschlichen Geist nach
vor-und aufwärts bewegt, ist der abstrakte Geist. Er muß
natürlich herausklingen und gehört werden können.
Der Ruf muß möglich sein. Das ist die innere Bedingung.
Diese beiden Bedingungen zu vernichten, ist das Mittel der schwarzen
Hand gegen die Evolution.
Die Werkzeuge dazu sind: die Angst vor der freien Bahn, vor der
Freiheit (Banausentum) und die Taubheit gegen den Geist (stumpfer
Materialismus).
Deshalb wird jeder neue Wert von den Menschen feindlich betrachtet.
Man sucht ihn zu bekämpfen durch Spott und Verleumdung. Der
den Wert bringende Mensch wird als lächerlich und unehrlich
dargestellt. Es wird über den neuen Wert gelacht und geschimpft.
Das ist der Schreck des Lebens.
Die Freude des Lebens ist der unaufhaltsame, ständige Sieg
des neuen Wertes.
Dieser Sieg geht langsam vor sich. Der neue Wert erobert ganz
allmählich die Menschen. Und wenn er in vielen Augen unzweifelhaft
wird, so wird aus diesem Wert, der heute unumgänglich nötig
war, eine Mauer gebildet, die gegen Morgen gerichtet ist.
Das Verwandeln des neuen Wertes (der Frucht der Freiheit) in
eine versteinerte Form (Mauer gegen Freiheit) ist das Werk der
schwarzen Hand.
Die ganze Evolution, das heißt das innere Entwickeln und
die äußere Kultur, ist also ein Verschieben der Schranken.
Die Schranken werden ständig aus neuen Werten geschaffen,
die die alten Schranken umgestoßen haben.
So sieht man, daß im Grunde nicht der neue Wert das wichtigste
ist, sondern der Geist, welcher sich in diesem Werte offenbart
hat. Und weiter die für die Offenbarungen notwendige Freiheit.
So sieht man, daß das Absolute nicht in der Form (Materialismus)
zu suchen ist.
Die Form ist immer zeitlich, das heißt relativ, da sie
nichts mehr ist, als das heute notwendige Mittel, in welchem die
heutige Offenbarung sich kundgibt, klingt.
Der Klang ist also die Seele der Form, die nur durch den Klang
lebendig werden kann und von innen nach außen wirkt.
Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhaltes.
Deshalb sollte man sich aus der Form keine Gottheit machen. Und
man sollte nicht länger um die Form kämpfen, als sie
zum Ausdrucksmittel des inneren Klanges dienen kann. Deshalb sollte
man nicht in einer Form das Heil suchen.
Diese Behauptung muß richtig verstanden werden. Für
jeden Künstler (das heißt produktiven Künstler
und nicht «Nachempfinder») ist sein Ausdrucksmittel
(= Form) das beste, da es am besten das verkörpert, was er
zu verkünden verpflichtet ist. Daraus wird aber oft fälschlich
die Folge gezogen, daß dieses Ausdrucksmittel auch für
die ändern Künstler das beste ist oder sein sollte.
Da die Form nur ein Ausdruck des Inhaltes ist und der Inhalt bei
verschiedenen Künstlern verschieden ist, so ist es klar,
daß es zu derselben Zeit viel verschiedene Formen geben
kann, die gleich gut sind. Die Notwendigkeit schafft die Form.
In großen Tiefen lebende Fische haben keine Augen. Der Elefant
hat einen Rüssel. Das Chamäleon verändert seine
Farbe undsoweiter.
So spiegelt sich in der Form der Geist des einzelnen Künstlers.
Die Form trägt den Stempel der Persönlichkeit.
Die Persönlichkeit kann aber natürlich nicht als etwas
außer Zeit und Raum Stehendes aufgefaßt werden. Sondern
sie unterliegt in gewissem Maße der Zeit (Epoche), dem Raum
(Volk).
Ebenso wie jeder einzelne Künstler sein Wort zu verkünden
hat, so auch jedes Volk, und also auch das Volk, zu welchem dieser
Künstler gehört. Dieser Zusammenhang spiegelt sich in
der Form und wird durch das Nationale im Werke bezeichnet.
Und endlich hat auch jede Zeit eine ihr speziell gegebene Aufgabe,
die durch sie mögliche Offenbarung. Die Abspiegelung dieses
Zeitlichen wird als Stil im Werke erkannt.
Alle diese drei Elemente des Stempels auf einem Werke sind unvermeidlich.
Es ist nicht nur überflüssig, für ihr Vorhandensein
zu sorgen, sondern auch schädlich, da das Gewaltsame auch
hier nichts als eine Vortäuschung, einen "zeitlichen
Betrug erzielen kann.
Und andererseits wird es von selbst klar, daß es überflüssig
und schädlich ist, nur eins der drei Elemente besonders geltend
machen zu wollen. So wie heute viele sich um das Nationale und
andere wieder um den Stil bemühen, so hat man vor kurzem
besonders dem Kultus der Persönlichkeit (des Individuellen)
gehuldigt.
Wie im Anfang gesagt wurde, bemächtigt sich der abstrakte
Geist erst eines einzelnen menschlichen Geistes, später beherrscht
er eine immer größer werdende Anzahl der Menschen.
In diesem Augenblick unterliegen einzelne Künstler dem Zeitgeist,
welcher sie zu einzelnen Formen zwingt, die einander verwandt
sind und dadurch auch eine äußerliche Ähnlichkeit
besitzen.
Diesen Moment nennt man eine Bewegung. Sie ist vollkommen berechtigt
und (ebenso wie die einzelne Form für einen Künstler)
einer Gruppe von Künstlern unentbehrlich.
Und so wie kein Heil in einer Form eines einzelnen Künstlers
zu suchen ist, so auch nicht in dieser Gruppenform. Für jede
Gruppe ist ihre Form die beste, da sie am besten das verkörpert,
was sie zu verkünden verpflichtet ist. Man sollte aber nicht
daraus schließen, daß diese Form für alle die
beste ist oder sein sollte. Auch hier soll volle Freiheit herrschen
und man soll jede Form gelten lassen, man soll jede Form für
richtig (= künstlerisch) halten, die ein äußerer
Ausdruck des inneren Inhaltes ist. Wenn man sich anders verhält,
so dient man nicht mehr dem freien Geiste (weißer Strahl),
sondern der versteinerten Schranke (schwarze Hand).
Also auch hier kommt man zu demselben Resultat, welches oben
festgestellt wurde: nicht die Form (Materie) im allgemeinen ist
das wichtigste, sondern der Inhalt (Geist).
Also die Form kann angenehm, unangenehm wirken, schön, unschön,
harmonisch, disharmonisch, geschickt, ungeschickt, fein, grob
und so weiter erscheinen, und doch muß sie weder wegen den
für positiv gehaltenen Eigenschaften noch als negativ empfundenen
Qualitäten angenommen oder verworfen werden. Alle diese Begriffe
sind vollkommen relativ, was man in der unendlichen Wechselreihe
der schon dagewesenen Formen auf den ersten Blick beobachtet.
Und ebenso relativ ist also die Form selbst. So ist die Form
auch zu schätzen und aufzufassen. Man muß sich so zu
einem Werk stellen, daß auf die Seele die Form wirkt. Und
durch die Form der Inhalt (Geist, innerer Klang). Sonst erhebt
man das Relative zum Absoluten.
Im praktischen Leben wird man kaum einen Menschen finden, welcher,
wenn er nach Berlin fahren will, den Zug in Regensburg verläßt.
Im geistigen Leben ist das Aussteigen in Regensburg eine ziemlich
gewöhnliche Sache. Manchmal will sogar der Lokomotivführer
nicht weiter fahren und die sämtlichen Reisenden steigen
in Regensburg aus. Wie viele, die Gott suchten, blieben schließlich
bei einer geschnitzten Figur stehen! Wie viele, die Kunst suchten,
blieben an einer Form hängen, die ein Künstler für
seine Zwecke gebraucht hat, sei es Giotto, Raphael, Dürer
oder van Gogh!
Und also als letzter Schluß muß festgestellt werden:
nicht das ist das wichtigste, ob die Form persönlich, national,
stilvoll ist, ob sie der Hauptbewegung der Zeitgenossen entspricht
oder nicht, ob sie mit vielen oder wenigen anderen Formen verwandt
ist oder nicht, ob sie ganz einzeln dasteht oder nicht, sondern
das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren
Notwendigkeit gewachsen ist oder nicht.1 Das Vorhandensein der
Formen in der Zeit und im Raum ist ebenso aus der inneren Notwendigkeit
der Zeit und des Raumes zu erklären. Deshalb wird es im letzten
Grunde möglich werden, die Merkmale der Zeit und des Volkes
herauszuschälen und schematisch darzustellen. Und je größer
die Epoche ist, das heißt je größer (quantitativ)
die Bestrebungen zum Geistigen sind, desto reicher in der Zahl
werden die Formen einerseits, und desto größere Gesamtströmungen
(Gruppenbewegungen) sind zu beobachten, was von selbst klar ist.
Diese Merkmale einer großen geistigen Epoche (die prophezeit
wurde und heute in einem der ersten Anfangsstadien sich kund gibt)
sehen wir in der gegenwärtigen Kunst. Und zwar:
1. eine große Freiheit, die manchem grenzenlos erscheint
und die
2. den Geist hörbar macht, welchen
3. wir mit einer ganz besonders starken Kraft sich in den Dingen
offenbaren sehen, welcher
4. alle geistigen Gebiete sich allmählich zum Werkzeug nehmen
wird und schon nimmt, woraus
5. er auch auf jedem geistigen Gebiete, also auch in der plastischen
Kunst (speziell in der Malerei) viele einzelnstehende und Gruppen
umfassende Ausdrucksmittel (Formen) schafft und
6. welchem heute die ganze Vorratskammer zur Verfügung steht,
das heißt es wird
jede Materie von der «härtesten» bis zu der nur
zweidimensional lebenden (abstrakten), als Formelement angewendet.
ad 1. Was die Freiheit anlangt, so drückt sie sich aus im
Streben zur Befreiung von den schon ihr Ziel verkörpert habenden
Formen, das heißt, von den alten Formen, im Streben zum
Schaffen der neuen und unendlich mannigfaltigen Formen.
ad 2. Das unwillkürliche Suchen nach den äußersten
Grenzen der Ausdrucksmittel der heutigen Epoche (Ausdrucksmittel
der Persönlichkeit, des Volkes, der Zeit) ist andererseits
ein Unterordnen der scheinbar zügellosen Freiheit, welches
vom Zeitgeiste bestimmt wird, und eine Präzisierung der Richtung,
in welcher das Suchen geschehen muß. Der unter einem Glas
in allen Richtungen laufende kleine Käfer glaubt eine unbeschränkte
Freiheit vor sich zu sehen. Er stößt aber in einer
gewissen Entfernung auf das Glas: sehen kann er weiter, aber gehen
nicht. Und die Bewegung des Glases nach vorwärts gibt ihm
die Möglichkeit, weiteren Raum zu durchlaufen. Und seine
Hauptbewegung wird von der lenkenden Hand bestimmt. - So wird
auch unsere sich vollkommen frei schätzende Epoche auf bestimmte
Grenzen stoßen, die aber «morgen» verschoben
werden.
ad 3. Diese scheinbar zügellose Freiheit und das Eingreifen
des Geistes entspringt aus der Tatsache, daß wir in jedem
Ding den Geist, den inneren Klang zu fühlen beginnen. Und
gleichzeitig wird diese beginnende Fähigkeit zu einer reiferen
Frucht der scheinbar zügellosen Freiheit und des eingreifenden
Geistes.
ad. 4. Hier können wir nicht die bezeichneten Wirkungen
auf allen anderen geistigen Gebieten zu präzisieren versuchen.
Doch soll es jedem von selbst klar werden, daß das Mitwirken
der Freiheit und des Geistes früher oder später sich
überall abspiegeln wird.2
ad. 5. In der bildenden Kunst (ganz besonders in der Malerei)
begegnen wir heute einem auffallenden Reichtum der Formen, die
teils als Formen der einzeln stehenden großen Persönlichkeiten
erscheinen, teils ganze Gruppen von Künstlern in einem großen
und vollkommen präzis dahinwallenden Strom mitreißen.
Und die große Verschiedenheit dieser Formen läßt
doch leicht das gemeinsame Streben erkennen. Und gerade in der
Massenbewegung läßt sich heute der alles umfassende
Formgeist erkennen. Und so genügt es, wenn man sagt: alles
ist erlaubt. Das heute Erlaubte kann doch nicht überschritten
werden. Das heute Verbotene bleibt unerschütterlich stehen.
Und man sollte sich keine Grenzen stellen, da sie ohnehin gestellt
sind. Das gilt nicht nur für den Absender (Künstler)
sondern auch für den Empfänger (Beschauer). Er kann
und muß dem Künstler folgen, und keine Angst sollte
er haben, daß er auf Irrwege geleitet wird. Der Mensch kann
sogar physisch sich nicht schnurgerade bewegen (die Feld- und
Wiesenpfade!) und noch weniger geistig. Und gerade unter den geistigen
Wegen ist oft der schnurgerade der lange, da er falsch ist, und
der als falsch erscheinende ist oft der richtigste.
Das zum lauten Sprechen gebrachte «Gefühl» wird
früher oder später den Künstler und ebenso den
Beschauer richtig leiten. Das ängstliche Sichhalten an einer
Form führt schließlich unvermeidlich in eine Sackgasse.
Das offene Gefühl - zur Freiheit. Das erste ist das Folgen
der Materie. Das zweite - dem Geiste: der Geist schafft eine Form
und geht zu weiteren über.
ad. 6. Das auf einen Punkt (sei es Form oder Inhalt) gerichtete
Auge kann unmöglich eine große Fläche übersehen.
Das auf der Oberfläche herumstreifende unaufmerksame Auge
übersieht diese große Fläche oder einen Teil derselben,
bleibt aber an den äußeren Verschiedenheiten hängen
und verliert sich in Widersprüchen. Der Grund dieser Widersprüche
liegt in der Verschiedenheit der Mittel, die der heutige Geist
aus der Vorratskammer der Materie scheinbar planlos herausreißt.
«Anarchie» nennen viele den gegenwärtigen Zustand
der Malerei. Dasselbe Wort wird schon hier und da auch bei der
Bezeichnung des gegenwärtigen Zustandes in der Musik gebraucht.
Darunter versteht man fälschlich ein planloses Umwerfen und
Unordnung. Die Anarchie ist Planmäßigkeit und Ordnung,
welche nicht durch eine äußere und schließlich
versagende Gewalt hergestellt werden, sondern durch das Gefühl
des Guten geschaffen werden. Also auch hier werden Grenzen gestellt,
die aber als innere bezeichnet werden müssen und die äußeren
ersetzen müssen. Und auch diese Grenzen werden immer erweitert,
wodurch die immer zunehmende Freiheit entsteht, die ihrerseits
freie Bahn schafft für die weiteren Offenbarungen. Die gegenwärtige
Kunst, die in diesem Sinne richtig als anarchistisch zu bezeichnen
ist, spiegelt nicht nur den schon eroberten geistigen Standpunkt
ab, sondern sie verkörpert als eine materialisierende Kraft
das zur Offenbarung gereifte Geistige.
Die vom Geiste aus der Vorratskammer der Materie herausgerissenen
Verkörperungsformen lassen sich leicht zwischen zwei Pole
ordnen. Diese zwei Pole sind:
1. die große Abstraktion,
2. die große Realistik.
Diese zwei Pole eröffnen zwei Wege, die schließlich
zu einem Ziel führen.
Zwischen diesen zwei Polen liegen viele Kombinationen der verschiedenen
Zusammenklänge des Abstrakten mit dem Realen.
Diese beiden Elemente waren in der Kunst immer vorhanden, wobei
sie als das «Reinkünstlerische» und das «Gegenständliche»
zu bezeichnen waren. Das erste drückte sich im zweiten aus,
wobei das zweite dem ersten diente. Es war ein verschiedenartiges
Balancieren, welches scheinbar im absoluten Gleichgewicht den
Höhepunkt des Idealen zu erreichen suchte.
Und es scheint, daß man heute in diesem Ideal kein Ziel
mehr findet, daß der die Schalen der Waage haltende Hebel
verschwunden ist und daß beide Schalen als selbständige,
voneinander unabhängige Einheiten ihre Existenzen getrennt
zu führen beabsichtigen. Und auch in diesem Zerbrechen der
idealen Waage sieht man «Anarchistisches», Dem angenehmen
Ergänzen des Abstrakten durch das Gegenständliche und
umgekehrt hat die Kunst scheinbar ein Ende bereitet.
Einerseits wird dem Abstrakten die divertierende Stütze
im Gegenständlichen genommen und der Beschauer fühlt
sich in der Luft schweben. Man sagt: die Kunst verliert den Boden.
Andererseits wird dem Gegenständlichen die divertierende
Idealisierung im Abstrakten (das «künstlerische»
Element) genommen und der Beschauer fühlt sich an den Boden
genagelt. Man sagt: die Kunst verliert das Ideal. Diese Vorwürfe
wachsen aus dem mangelhaft entwickelten, Gefühl. Die Gewohnheit,
der Form die Hauptaufmerksamkeit zu schenken und die daraus fließende
Art des Beschauers, das heißt das Hängen an der gewohnten
Form des Gleichgewichtes, sind die verblendenden Kräfte,
die dem freien Gefühl keine freie Bahn lassen.
Die erwähnte, erst keimende große Realistik ist ein
Streben, aus dem Bilde das äußerliche Künstlerische
zu vertreiben und den Inhalt des Werkes durch einfache («unkünstlerische»)
Wiedergabe des einfachen hauen Gegenstandes zu verkörpern.
Die in dieser Art aufgefaßte und im Bilde fixierte äußere
Hülse des Gegenstandes und das gleichzeitige Streichen der
gewohnten aufdringlichen Schönheit entblößen am
sichersten den inneren Klang des Dinges. Gerade durch diese Hülse
bei diesem Reduzieren des «Künstlerischen» auf
das Minimum klingt die Seele des Gegenstandes am stärksten
heraus, da die äußere owohlschmeckedde Schönheit
nicht mehr ablenken kann.3
Und das ist nur darum möglich, weil wir immer weiter kommen,
auf dem Wege, die ganze Welt so, wie sie ist, also in keiner verschönenden
Interpretation hören zu können.
Das zum Minimum» gebrachte «Kunstlerische»
muß hier als das am stärksten wirkende Abstrakte erkannt
werden.4
Der große Gegensatz zu dieser Realistik ist die große
Abstraktion, die aus dem Bestreben, das Gegenständliche (Reale)
scheinbar ganz auszuschalten, besteht und den Inhalt des Werkes
in «unmateriellen» Formen zu verkörpern sucht.
Das in dieser Art aurgefaßte und im Bild fixierte abstrakte
Leben der auf das Minimale reduzierten gegenständlichen Formen
und also das auffallende Vorwiegen der abstrakten Einheiten entblößt
am sichersten den inneren Klang des Bildes. Und ebenso, wie in
der Realistik durch das Streichen des Abstrakten der innere Klang
verstärkt wird, so wird auch in der Abstraktion dieser Klang
durch das Streichen des Realen verstärkt. Dort war es die
gewohnte äußere wohlschmeckende Schönheit, die
den Dämpfer bildete. Hier ist es der gewohnte äußere
unterstützende Gegenstand.
Zum «Verständnis» dieser Art Bilder ist auch
dieselbe Befreiung wie in der Realistik nötig, das heißt
auch hier muß es möglich werden, die ganze Welt, so
wie sie ist, ohne gegenständliche Interpretation hören
zu können. Und hier sind diese abstrahierten oder abstrakten
Formen (Linien, Flächen, Flecken undsoweiter) nicht selbst
als solche wichtig, sondern nur ihr innerer Klang, ihr Leben.
So wie in der Realistik nicht der Gegenstand selbst, oder seine
äußere Hülse, sondern sein innerer Klang, Leben
wichtig sind.
Das zum Minimum gebrachte «Gegenständliche»
muß in der Abstraktion als das am stärksten wirkende
Reale erkannt werden.5
So sehen wir schließlich: wenn in der großen Realistik
das Reale auffallend groß erscheint und das Abstrakte auffallend
klein und in der großen Abstraktion dieses Verhältnis
umgekehrt zu sein scheint, so sind im letzten Grunde (= Ziele)
diese zwei Pole einander gleich. Zwischen diesen zwei Antipoden
kann das Zeichen des Gleichnisses gestellt werden:
Realistik = Abstraktion
Abstraktion = Realistik.
Die größte Verschiedenheit im Äußeren wird
zur größten Gleichheit im Inneren.
Einige Beispiele werden uns aus dem Gebiet der Reflexion in das
Gebiet des Greifbaren versetzen. Wenn der Leset irgendeinen Buchstaben
dieser Zeilen mit ungewohnten Augen anschaut, das heißt
nicht als ein gewohntes Zeichen eines Teiles eines Wortes, sondern
erst als Ding, so sieht er in diesem Buchstaben außer der
praktischzweckmäßig vom Menschen geschaffenen abstrakten
Form, die eine ständige Bezeichnung eines bestimmten Lautes
ist, noch eine körperliche Form, die ganz selbständig
einen bestimmten äußeren und inneren Eindruck macht,
das heißt unabhängig von der eben erwähnten abstrakten
Form. In diesem Sinne besteht der Buchstabe:
1. aus der Hauptform = Gesamterscheinung, die, sehr grob bezeichnet,
«lustig», «traurig», «strebend»,
«sinkende, «trotzig», «protzig»
undsoweiter erscheint;
2. besteht der Buchstabe aus einzelnen, so oder anders gebogenen
Linien, die auch jedesmal einen bestimmten inneren Bindruck machen,
das heißt ebenso «lustig», «traurig»
undsoweiter sind.
Wenn der Leser diese zwei Elemente des Buchstabens gefühlt
hat, so entsteht in ihm sofort das Gefühl, welches dieser
Buchstabe als Wesen mit innerem Leben verursacht.
Man soll hier nicht mit der Erwiderung kommen, daß dieser
Buchstabe auf einen Menschen so, auf den anderen anders wirkt.
Das ist nebensächlich und verständlich. Im allgemeinen
gesagt, wirkt jedes Wesen auf verschiedene Menschen so oder anders.
Wir sehen nur, daß der Buchstabe aus zwei Elementen besteht,
die doch schließlich einen Klang ausdrücken. Die einzelnen
Linien des zweiten Elementes können «lustig»
sein und doch kann der ganze Eindruck (Element I) «traurig»
wirken undsoweiter. Die einzelnen Bewegungen des zweiten Elementes
sind organische Teile des ersten. Ebensolche Konstruktionen und
ebensolche Unterordnungen der einzelnen Elemente einem Klang beobachten
wir in jedem Lied, jedem Klavierstück, in jeder Symphonie.
Und ganz dieselben Vorgänge bilden eine Zeichnung, eine Skizze,
ein Bild. Hier offenbaren sich die Gesetze der Konstruktion. Für
uns ist augenblicklich nur eins wichtig: der Buchstabe wirkt.
Und, wie gesagt, ist diese Wirkung doppelt:
1. Der Buchstabe wirkt als ein zweckmäßiges Zeichen;
2. er wirkt erst als Form und später als innerer Klang dieser
Form selbständig und vollkommen unabhängig.
Es ist uns wichtig, daß diese zwei Wirkungen in keinem
gegenseitigen Zusammenhange sind, und während die erste Wirkung
eine äußere ist, hat die zweite einen inneren Sinn.
Der Schluß, den wir daraus ziehen, ist der, daß die
äußere Wirkung eine andere sein kann, als die innere,
die durch den inneren Klang verursacht wird, was eins der mächtigsten
und tiefsten Ausdrucksmittel in jeder Komposition ist.6
Nehmen wir noch ein Beispiel. Wir sehen in diesem selben Buch
einen Gedankenstrich. Dieser Gedankenstrich, wenn er an der richtigen
Stelle angebracht ist - so wie ich es hier mache -, ist eine Linie
mit einer praktisch-zweckmäßigen Bedeutung. Wollen
wir diese kleine Linie verlängern und sie doch an einer richtigen
Stelle lassen: der Sinn der Linie bleibt, ebenso wie ihre Bedeutung,
die aber durch das Ungewohnte dieser Verlängerung eine undefinierbare
Färbung gibt, wobei der Leser sich fragt, warum die Linie
so lang ist und ob diese Länge nicht einen praktisch-zweckmäßigen
Zweck hat. Stellen wir dieselbe Linie an einer falschen Stelle
(so wie - ich es hier mache). Das richtig Praktisch-Zweckmäßige
ist verloren und nicht mehr zu finden, der Beiklang der Frage
ist hoch gewachsen. Es bleibt der Gedanke an einen Druckfehler,
das heißt an das entstellte Praktisch-Zweckmäßige.
Hier klingt das letztere negativ. Bringen wir dieselbe Linie auf
einer leeren Seite an, zum Beispiel lang und geschweift. Dieser
Fall ist dem letzten sehr ähnlich, nur denkt man (solange
die Hoffnung einer Erklärung vorhanden ist)an das richtigpraktisch-
Zweckmäßige. Und später (wenn keine Erklärung
zu findenist) an das Negative. Solange aber diese oder jene Linie
im Buch bleibt, ist das Praktisch-Zweckmäßige nicht
definitiv zum Ausschalten zu bringen.
Bringen wir also eine ähnliche Linie in ein Milieu, weiches
das Praktisch-Zweckmäßige vollkommen zu vermeiden vermag.
Zum Beispiel auf eine Leinwand. Solange der Beschauer (es ist
kein Leser mehr) die Linie auf der Leinwand als ein Mittel zur
Abgrenzung eines Gegenstandes ansieht, unterliegt er auch hier
dem Eindruck des Praktisch-Zweckmäßigen. In dem Augenblick
aber, in welchem er sich sagt, daß der praktische Gegenstand
auf dem Bilde meistens nur eine zufällige und nicht eine
rein malerische Rolle spielte, und daß die Linie manchmal
eine ausschließlich rein malerische Bedeutung hatte7, in
diesem Augenblick ist die Seele des Beschauers reif, den reinen
innere» Klang dieser Linie zu empfinden.
Ist denn dadurch der Gegenstand, das Ding aus dem Bilde vertrieben?
Nein. Die Linie ist, wie wir oben gesehen haben, ein Ding, welches
ebenso einen praktisch-zweckmäßigen Sinn hat, wie ein
Stuhl, ein Brunnen, ein Messer, ein Buch undsoweiter. Und dieses
Ding wird in dem letzten Beispie] als ein reines malerisches Mittel
gebraucht ohne die ändern Seiten, die es sonst besitzen kann
- also in seinem reinen inneren Klang.
Wenn also im Bild eine Linie von dem Ziel, ein Ding zu bezeichnen,
befreit wird und selbst als ein Ding füngiert, wird ihr innerer
Klang durch keine Nebenrollen abgeschwächt und bekommt ihre
volle innere Kraft.
So kommen wir zur Folge, daß die reine Abstraktion sich
auch der Dinge bedient, die ihr materielles Dasein führen,
geradeso, wie die reine Realistik. Die größte Verneinung
des Gegenständlichen und ihre größte Behauptung
bekommen wieder das Zeichen des Gleichnisses. Und dieses Zeichen
wird wieder durch das gleiche Ziel in beiden Fällen berechtigt:
durch das Verkörpern desselben inneren Klanges.
Hier sehen wir, daß es also im Prinzip gar keine Bedeutung
hat, ob eine reale oder abstrakte Form vom Künstler gebraucht
wird.
Da beide Formen innerlich gleich sind. Die Wahl muß dem
Künstler überlassen werden, welcher selbst am besten
wissen muß, durch welches Mittel er am klarsten den Inhalt
seiner Kunst materialisieren kann. Abstrakt gesagt; Es gibt keine
Frage der Form im Prinzip.
Und tatsächlich: wenn es eine prinzipielle Frage der Form
gäbe, so würde auch eine Antwort möglich sein.
Und jeder, der diese Antwort kennt, würde Kunstwerke schaffen
können. Das heißt, zur selben Zeit würde die Kunst
nicht mehr existieren. Praktisch gesagt: Die Frage der Form verändert
sich in die Frage: welche Form soll ich in diesem Falle anwenden,
um zum notwendigen Ausdruck meines inneren Erlebnisses zu gelangen?
Die Antwort ist in diesem Falle immer wissenschaftlich präzis,
absolut und für andere Fälle relativ. Das heißt
eine Form, die die beste in einem Falle ist, kann in einem anderen
Falle die schlechteste sein: alles hängt hier von der inneren
Notwendigkeit ab, die allein eine Form richtig machen kann. Und
nur dann kann eine Form eine Bedeutung für mehrere haben,
wenn die innere Notwendigkeit unter dem Druck der Zeit und des
Raumes einzelne Formen wählt, die miteinander verwandt sind.
Dieses ändert aber an der relativen Bedeutung der Form gar
nichts, da die auch in diesem Falle richtige Form in vielen anderen
Fällen falsch sein kann.
Die sämtlichen Regeln, die schon in der früheren Kunst
entdeckt wurden und die später entdeckt werden und auf welche
die Kunsthistoriker einen übertrieben großen Wert legen,
sind keine allgemeinen Regeln: sie führen nicht zur Kunst.
Wenn ich die Regeln des Tischlers kenne, so werde ich immer einen
Tisch machen können. Der aber, welcher die vermutlichen Regeln
des Malers kennt, darf nicht sicher sein, daß er ein Kunstwerk
schaffen kann. Diese vermutlichen Regeln, die bald in der Malerei
zu einem «Generalbaß» führen werden, sind
nichts als Erkenntnis der inneren Wirkung der einzelnen Mittel
und ihrer Kombinierung. Es wird aber nie Regeln geben, durch welche
eine gerade in einem bestimmten Falle notwendige Anwendung der
Formwirkung und Kombinierung der einzelnen Mittel zu erreichen
sein wird.
Das praktische Resultat: man darf nie einem Theoretiker (Kunsthistoriker,
Kritiker undsoweiter) glauben, wenn er behauptet, daß er
irgendeinen objektiven Fehler im Werke entdeckt habe.
Und: das Einzige, was der Theoretiker mit Recht behaupten kann,
ist das, daß er bis jetzt diese oder jene Anwendung des
Mittels noch nicht gekannt hat. Und: die Theoretiker, die, von
der Analyse der schon dagewesenen Formen ausgehend, ein Werk tadeln
oder loben, sind die schädlichsten Irreführer, die zwischen
dem Werk und dem naiven Beschauer eine Mauer bilden.
Von diesem Standpunkt aus (welcher leider meistens der einzig
mögliche ist) ist die Kunstkritik der schlimmste Feind der
Kunst.
Der ideale Kunstkritiker wäre also nicht der Kritiker, welcher
die »Fehler»8, «Verirrungen», «Unkenntnisse»,
«Entlehnungen» undsoweiter zu entdecken suchen würde,
sondern der, welcher zu fühlen suchen würde, wie diese
oder jene Form innerlich wirkt und dann sein Gesamterlebnis dem
Publikum ausdrucksvoll mitteilen würde.
Hier würde natürlich der Kritiker eine Dichterseele
brauchen, da der Dichter objektiv fühlen muß, um subjektiv
sein Gefühl zu verkörpern. Das heißt der Kritiker
würde eine schöpferische Kraft besitzen müssen.
In Wirklichkeit sind aber die Kritiker sehr oft mißlungene
Künstler, die am Mangel eigener schöpferischer Kraft
scheitern und deshalb sich berufen fühlen, die fremde schöpferische
Kraft zu lenken.
Die Formfrage ist für die Künstler oft schädlich
auch darum, weil unbegabte Menschen (das heißt Menschen,
die keinen inneren Trieb zur Kunst haben), sich der fremden Formen
bedienend, Werke vortäuschen und dadurch eine Verwirrung
verursachen.
Hier muß ich präzis sein. Eine fremde Form zu gebrauchen
heißt in der Kritik, im Publikum und oft bei den Künstlern
ein Verbrechen, ein Betrug. Das ist aber in Wirklichkeit nur dann
der Fall, wenn der «Künstler» diese fremden Formen
ohne innere Notwendigkeit braucht und dadurch ein lebloses, totes
Scheinwerk schafft. Wenn aber der Künstler zum Ausdruck seiner
inneren Regungen und Erlebnisse sich einer oder der ändern
«fremden» Form, der inneren Wahrheit entsprechend,
bedient, so übt er sein Recht aus, sich jeder ihm innerlich
nötigen Form zu bedienen -sei es ein Gebrauchsgegenstand,
ein Himmelskörper oder eine durch einen ändern Künstler
schon künstlerisch materialisierte Form.
Diese ganze Frage der «Nachahmung»9 hat auch lange
nicht die Bedeutung, die ihr wieder durch die Kritik beigemessen
wird.10 Das Lebende bleibt. Das Tote verschwindet.
Und wirklich: je weiter wir unsern Blick zur Vergangenheit wenden,
desto weniger finden wir Vortäuschungen, Scheinwerke. Sie
sind geheimnisvoll verschwunden. Nur die echten künstlerischen
Wesen bleiben, das heißt die, die in dem Körper (Form)
eine Seele (Inhalt) besitzen.
Wenn der Leser weiter jeden beliebigen Gegenstand auf seinem
Tisch anschaut (sei es nur ein Zigarrenstummel), so wird er sofort
dieselben zwei Wirkungen bemerken. Es sei wo und wann es will
(in der Straße, Kirche, im Himmel, Wasser, im Stall oder
Wald), überall werden die zwei Wirkungen sich herausstellen
und überall wird der innere Klang vom äußeren
Sinn unabhängig sein.
Die Welt klingt. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen.
So ist die tote Materie lebender Geist.
Wenn wir aus der selbständigen Wirkung des inneren Klanges
die uns hier nötige Folge ziehen, so sehen wir, daß
dieser innere Klang an Stärke gewinnt, wenn der ihn unterdrückende
äußere praktischzweckmäßige Sinn entfernt
wird. Hier liegt die eine Erklärung der ausgesprochenen Wirkung
einer Kinderzeichnung auf den unparteiischen, untraditionellen
Beschauer. Das Praktisch-Zweckmäßige ist dem Kind fremd,
da es jedes Ding mit ungewohnten Augen anschaut und noch die ungetrübte
Fähigkeit besitzt, das Ding als solches aufzunehmen. Das
Praktisch-Zweckmäßige wird erst später durch viele,
oft traurige Erfahrungen langsam kennengelernt. So entblößt
sich in jeder Kinderzeichnung ohne Ausnahme der innere Klang des
Gegenstandes von selbst. Die Erwachsenen, besonders die Lehrer
bemühen sich, dem Kinde das Praktisch-Zweckmäßige
aufzudrängen und kritisieren dem Kinde seine Zeichnung gerade
von diesem flachen Standpunkt aus: «dein Mensch kann nicht
gehen, weil er nur ein Bein hat», «auf deinem Stuhl
kann man nicht sitzen, da er schief ist» undsoweiter.11
Das Kind lacht sich selbst aus. Es sollte aber weinen. Nun hat
das begabte Kind außer der Fähigkeit, das Außere
zu streichen, noch die Macht, das geblichene Innere in eine Form
zu kleiden, in welcher dieses gebliebene Innere am stärksten
zum Vorschein kommt und also wirkt (wie man auch zu sagen pflegt
«spricht»!).
Jede Form ist vielseitig. Man entdeckt an ihr immer und immer
andere glückliche Eigenschaften. Hier will ich aber nur eine
augenblicklich uns wichtige Seite der guten Kinderzeichnung betonen:
die kompositionelle. Hier springt uns ins Auge die unbewußte,
wie von selbst gewachsene Anwendung der beiden oben erwähnten
Teile des Buchstabens, das heißt l. die Gesamterscheinung,
die sehr oft präzis ist und hier und da bis ins Schematische
steigt, und 2. die einzelnen, die große Form bildenden Formen,
von denen jede ein eigenes Leben führt. (So zum Beispiel
die «Araber» von Lydia Wieber.) Es ist eine unbewußte,
enorme Kraft im Kinde, die sich hier äußert und die
das Kinderwerk dem Werke des Erwachsenen gleich hoch (und oft
viel höher!) stellt.12
Für jedes Glühen gibt es ein Abkühlen. Für
jede frühe Knospe - der drohende Frost. Für jedes junge
Talent - eine Akademie. Es sind keine tragischen Worte, sondern
eine traurige Tatsache. Die Akademie ist das sicherste Mittel,
der beschriebenen Kindeskraft den Garaus zu machen. Sogar das
sehr große, starke Talent wird in dieser Beziehung von der
Akademie mehr oder weniger gebremst. Die schwächeren Begabungen
gehen zu Hunderten zugrunde. Ein akademisch gebildeter, mittelmäßig
begabter Mensch zeichnet sich dadurch aus, daß er das Praktisch-Zweckmäßige
erlernt hat und daß er das Hören des inneren Klanges
verloren hat. So ein Mensch liefert eine «korrekte»
Zeichnung, die tot ist.
Wenn ein Mensch, welcher keine künstlerische Bildung erworben
hat und also von den objektiven künstlerischen Kenntnissen
frei ist, irgend etwas malt, so entsteht nie ein leerer Schein.
Hier sehen wir ein Beispiel des Wirkens der inneren Kraft, die
nur von den allgemeinen Kenntnissen des Praktisch-Zweckmäßigen
beeinflußt wird.
Da aber die Anwendung auch dieses Allgemeinen hier nur beschränkt
geschehen kann, so wird das Außere auch hier (nur weniger
als bei dem Kinde, aber doch ausgiebig) gestrichen und der innere
Klang gewinnt an Kraft: es entsteht keine tote Sache, sondern
eine lebende. Christus sagte: Lasset die Kindlein zu mir kommen,
denn ihrer ist das Himmelreich.
Der Künstler, der sein ganzes Leben in vielem dem Kinde
gleicht, kann oft leichter als ein anderer zu dem inneren Klang
der Dinge gelangen. Es ist in dieser Beziehung ganz besonders
interessant zu sehen, wie der Komponist Arnold Schönberg
die malerischen Mittel einfach und sicher anwendet. Ihn interessiert
in der Regel nur dieser innere Klang. Alle Ausschmückungen
und Feinschmeckereien läßt er ohne Beachtung und die
«ärmste» Form wird in seinen Händen die
reichste. (Siehe sein Selbstporträt.)
Hier liegt die Wurzel der neuen großen Realistik. Die vollkommen
und ausschließlich einfach gegebene äußere Hülse
des Dinges ist schon eine Absonderung des Dinges vom Praktisch-Zweckmäßigen
und das Herausklingen des Inneren. Henri Rousseau, der als Vater
dieser Realistik zu bezeichnen ist, hat mit einer einfachen und
überzeugenden Geste den Weg gezeigt.
Henri Rousseau hat den neuen Möglichkeiten der Einfachheit
den Weg eröffnet. Dieser Wert seiner vielseitigen Begabung
ist uns augenblicklich der wichtigste.
Die Gegenstände oder der Gegenstand (das heißt er
und die ihn bildenden Teile) müssen in irgendeinem Zusammenhang
stehen. Dieser Zusammenhang kann auffallend harmonisch sein oder
auffallend disharmonisch. Es kann hier eine schematisierte Rhythmik
angewendet werden; oder eine versteckte.
Der unaufhaltsame Drang von heute, das rein Kompositionelle zu
offenbaren, die künftigen Gesetze unserer großen Epoche
zu entschleiern ist die Kraft, die die Künstler auf verschiedenen
Wegen zu einem Ziele zu streben zwingt.
Es ist natürlich, daß der Mensch sich in einem solchen
Falle an das Regelmäßigste und zugleich Abstrakteste
wendet. So sehen wir, daß durch verschiedene Kunstperioden
das Dreieck als Konstruktionsbasis gebraucht wurde. Dieses Dreieck
wurde oft als ein gleichseitiges angewendet, und so kam auch die
Zahl zu ihrer Bedeutung, das heißt das ganz abstrakte Element
des Dreiecks. In dem heutigen Suchen nach abstrakten Verhältnissen
spielt die Zahl eine besonders große Rolle. Jede Zahlformel
ist wie ein eisiger Berggipfel kühl und als höchste
Regelmäßigkeit wie ein Marmorblock fest. Sie ist kalt
und fest, wie jede Notwendigkeit. Das Suchen, in einer Formel
das Kompositionelle auszudrücken, ist der Grund des Entstehens
des sogenannten Kubismus. Diese «mathematische» Konstruktion
ist eine Form, die manchmal bis zum letzten Grade der Vernichtung
des materiellen Zusammenhanges der Teile des Dinges führen
muß und in konsequenter Anwendung führt. (Zum Beispiel
Picasso.)
Das letzte Ziel auch auf diesem Wege ist, ein Bild zu schaffen,
das durch eigene, schematisch konstruierte Organe zum Leben gebracht
wird, zum Wesen wird. Wenn diesem Wege im allgemeinen etwas vorgeworfen
werden kann, so ist es nicht anders, als daß hier eine zu
begrenzte Anwendung der Zahl ist. Es kann alles als eine mathematische
Formel oder einfach als eine Zahl dargestellt werden. Es gibt
aber verschiedene Zahlen: l und 0,3333.... sind gleich berechtigte,
gleich lebende innerlich klingende Wesen. Warum soll man sich
mit l begnügen? Warum soll man 0,333.... ausschließen?
Damit verbunden stellt sich die Frage: warum soll man durch ausschließliche
Anwendung von Dreiecken und ähnlichen geometrischen Formen
und Körpern den künstlerischen Ausdruck schmälern?
Es soll aber wiederholt werden, daß die kompositionellen
Bestrebungen der «Kubisten» in einem direkten Zusammenhang
stehen zu der Notwendigkeit, rein malerische Wesen zu schaffen,
die einerseits im Gegenständlichen und durch das Gegenständliche
reden und durch verschiedene Kombinationen mit dem mehr oder weniger
klingenden Gegenstand andererseits schließlich zur reinen
Abstraktion übergehen.
Zwischen der rein abstrakten und der rein realen Komposition
liegen die Kombinationsmöglichkeiten der abstrakten und realen
Elemente in einem Bilde. Diese Kombinationsmöglichkeiten
sind groß und mannigfaltig. In allen Fällen kann das
Leben des Werkes stark pulsieren und sich also zur Formfrage frei
verhalten.
Die Kombinationen des Abstrakten mit dem Gegenständlichen,
die Wahl zwischen den unendlichen abstrakten Formen oder im gegenständlichen
Material, das heißt die Wahl der einzelnen Mittel auf beiden
Gebieten, ist und bleibt dem inneren Wunsch des Künstlers
überlassen. Die heute verpönte oder verachtete Form,
die scheinbar ganz abseits vom großen Strom liegt, wartet
nur auf ihren Meister. Diese Form ist nicht tot, sie ist bloß
in eine Art Lethargie versunken. Wenn der Inhalt, der Geist, welcher
sich nur durch diese scheintote Form offenbaren kann, reif wird,
wenn die Stunde seiner Materialisation geschlagen hat,- so tritt
er in diese Form und wird durch sie sprechen.
Und speziell der Laie sollte nicht mit der Frage an das Werk
gehen: «was hat der Künstler nicht gemacht?»
oder anders gesagt: «wo erlaubt sich der Künstler,
meine Wünsche zu vernachlässigen?», sondern sollte
sich fragen: «was hat der Künstler gemacht?»
oder: «welchen seinen inneren Wunsch hat hier der Künstler
zum Ausdruck gebracht?». Ich glaube auch, daß die
Zeit noch kommen wird, wo auch die Kritik ihre Aufgabe nicht im
Suchen des Negativen, Fehler haften, sondern im Suchen und Vermitteln
des Positiven, Richtigen finden wird. Eine der «wichtigen»
Sorgen der heurigen Kritik der abstrakten Kunst gegenüber
ist die Sorge, wie soll man denn in dieser Kunst das Falsche vom
Richtigen unterscheiden, das heißt größtenteils,
wie soll man hier das Negative entdecken? Das Verhalten beim Kunstwerk
gegenüber sollte ein anderes sein, als das Verhalten zu einem
Pferd, welches man kaufen will: bei dem Pferd deckt eine wichtige
negative Eigenschaft alle die positiven und macht es wertlos;
beim Werk ist das Verhältnis umgekehrt: eine wichtige positive
Eigenschaft deckt alle die negativen und macht es wertvoll.
Wenn dieser einfache Gedanke einmal berücksichtigt wird,
so werden von selbst die prinzipiell-absoluten Formfragen fallen,
die Formfrage wird ihren relativen Wert erhalten, und unter anderem
wird endlich dem Künstler selbst die Wahl der Form überlassen,
welche ihm und in diesem Werk notwendig ist.
Später kann der Leser mit dem Künstler zu objektiven
Betrachtungen, zur wissenschaftlichen Analyse übergehen.
Hier findet er dann, daß sämtliche möglichen Beispiele
einem inneren Rufe gehorchen - Komposition, daß sie alle
auf einer inneren Basis stehen - Konstruktion. Der innere Inhalt
des Werkes kann entweder einem oder dem anderen von zwei Vorgängen
gehören, die heute (ob nur heute? oder heute nur besonders
sichtbar?) alle Nebenbewegungen in sich auflösen. Diese zwei
Vorgänge sind:
1. Das Zersetzen des seelenlos-materiellen Lebens des 19. Jahrhunderts,
das heißt das Fallen der für einzig feste gehaltenen
Stützen des Materiellen, das Zerfallen und Sichauflösen
der einzelnen Teile.
2. Das Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts,
welches wir miterleben und welches sich schon jetzt in starken,
ausdrucksvollen und bestimmten Formen manifestiert und verkörpert.
Diese zwei Vorgänge sind die zwei Seiten der «heutigen
Bewegung». Die schon erzielten Erscheinungen zu qualifizieren
oder auch nur das Endziel dieser Bewegung festzustellen, wäre
eine Anmaßung, die durch verlorene Freiheit sofort grausam
bestraft würde.
Wie schon oft gesagt, nicht zur Beschränkung sollen wir
streben, sondern zur Befreiung. Nichts soll man verwerfen ohne
angestrengte Versuche, Lebendes zu entdecken.
Es ist besser, den Tod für das Leben zu halten, als das
Leben für den Tod. Wenn auch nur ein einziges Mal. Und nur
auf einer freigewordenen Stelle kann wieder etwas wachsen. Der
Freie sucht sich durch alles zu bereichern und von jedem Wesen
das Leben auf sich wirken zu lassen - wenn es auch nur ein abgebranntes
Zündholz ist.
Nur durch Freiheit kann das Kommende empfangen werden.
Und man bleibt nicht abseits stehen, wie der dürre Baum,
unter dem Christus das schon bereitliegende Schwert sah.
Cf.
1 Das heißt, man darf nicht aus einer Form eine Uniform
machen. Kunstwerke sind keine Soldaten. Eine und dieselbe Form
kann also wieder auch bei demselben Künstler einmal die beste,
ein anderes Mal die schlechteste sein. Im ersten Fall ist sie
auf dem Boden der inneren Notwendigkeit gewachsen, im zweiten
- auf dem Boden der äußeren Notwendigkeit: aus dem
Ehrgeiz und der Habsucht.
2 Etwas näher habe ich diese Frage in meiner Schrift Uber
das Geistige in der Kunst erörtert.
3 Den Inhalt des gewohnten Schönen hat der Geist schon absorbiert
und findet keine neue Nahrung darin. Die Form dieses gewohnten
Schönen gibt dem faulen körperlichen Auge die gewohnten
Genüsse. Die Wirkung des Werkes bleibt im Bereiche des Körperlichen
stecken. Das geistige Erlebnis wird unmöglich. So bildet
oft dieses Schöne eine Kraft, die nicht zum Geist, sondern
vom Geist führt.
4 Die quantitative Verminderung des Ahstrakten ist also der qualitativen
Vergroßernng des Abstrakten gleich. Hiet berührten
wir eins der wesentlichsten Gesetze: das äußere Vergrößern
eines Ausdrucksmittels führt unter Umständen zum Vermindern
der inneren Kraft desselben. Hier ist 2+1 weniger als 2-l. Dieses
Gesetz offenbart sich natürlich auch in der hieinsten Ausdrucksform:
ein Farbenfleck verliert oft an der Intensität und muß
an der Wirkung verlieren - durch äußere Vergrößerung
und durch die äußere Steigerung der Stärke. Eine
besonders gute Farbenbewegung entsteht oft durch das Hemmen derselben;
ein schmerzlicher Klang kann durch direkte Süße der
Farbe erzielt werden undsoweiter. Das alles sind Außerungen
des Gesetzes des Gegensatzes in seinen weiteten Folgen. Kurz gesagt
: aus der Kombination des Cefiihls und der Wissenschaft enisteht
die wahre Form, Hier muß ich wieder an den Koch erinnern
! Die gute körperliche Speise entsteht auch aus der Kombination
eines guten Rezeptes (wo alles. genau in Pfund und Gramm bezeichnet
ist) und aus dem lenkenden Gefuhl. Ein großes Merkmal unserer
Zeit ist das Aufgehen des Wissens: die Kunstwissenschaft nimmt
allmahlich den ihr gebührenden Platz ein. Das ist der kommende
«Generalbaß», weichem naturlich eine unendliche
Wechsel- und Entwicklungsbahn bevorsteht!
5 Also am anderen Pol Irenen wir dasselbe wie eben erwähnte
Gesetz, wonach die quantitative Verminderung der qualitativen
Vergroßerung gleich ist.
6 Hier kann ich solche großen Probleme nur im Vorübergehen
streifen. Der Leser braucht sich nur weiter in diese Fragen vertiefen
und das Gewaltige, Geheimnisvolle, unüberwindlich Verlockende
zum Beispiel dieser letzten Schlußfolge wird sich von selbst
einstellen.
7 Van Gogh hat mit besonderer Kraft die Linie als solche gebraucht,
ohne damit das Gegenständliche irgendwie markieren zu wollen.
8 Zum Beispiel «anatomische Fehler», «Verzeichnungen»
und dergleichen oder später Verstöße gegen den
kommenden «Generalbaß».
9 Wie phantastisch die Kritik auf diesem Gebiete ist, weiß
jeder Künstler. Die Kritik weiß, daß die tollsten
Behauptungen gerade hier vollkommen straflos angewendet werden
können. Zum Beispiel vor kurzem wurde die Negerin von Eugen
Kahler, eine gute naturalistische Atelierstudie, mit ...... Gauguin
verglichen. Die einzige Veranlassung zu diesem Vergleich konnte
nur die braune Haut des Modells sein (siehe Münchner Neueste
Nachrichten, 12. Oktober 1911) undsoweiter.
10 Und dank der herrschenden Uberschätzung dieser Frage
wird der Künstler unbestraft diskreditiert.
11 Wie es so oft der Fall ist: man belehrt die, die belehren
sollten. Und später wundert man sich, daß aus den begabten
Kindern nichts wird.
12 Auch diese verblüffende Eigenschaft der kompositionellen
Form besitzt die «Volkskunst». (Siehe zum Beispiel
das Pest-Votivbild aus der Kirche in Murnau.)
Kandinsky, Wasily,
In: Essays über Kunst und Kunstler (herausgegeben und kommentiert
von Max Bill). Teufen 1955 S. 15-45
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